Die Zerstörung Jerusalems
- ein "göttliches Strafgericht"?

 

Ludwig I. ernennt Wilhelm von Kaulbach im Jahre 1837 zu seinem Hofmaler. Zur gleichen Zeit entwirft Kaulbach den Karton für das Gemälde "Die Zerstörung Jerusalems durch Titus" das heute in der Münchner Neuen Pinakothek zu sehen ist. Im nächsten Jahr fertigt er eine Farbenskizze. Den Auftrag des Monarchen zu dem riesigen Unternehmen erhält er 1841. Es wird im Jahre 1846 abgeschlossen. Das monumentale Werk repräsentativer Staatskunst misst annähernd sechs auf sieben Meter.  In der neuerbauten  königlichen Gemäldegalerie bekommt das  farbenprächtige Historienbild seinen festen Platz. Es findet massenhafte Verbreitung als Reproduktionsdruck. Kaulbach ist in seiner Zeit einer der berühmtesten Maler, der materiell erfolgreichste Künstler. Man begeistert sich am geschichtlichen Inhalt seiner Kompositionen. Kaulbach bezieht sich auf Textstellen des Alten und Neuen Testamentes und die "Geschichte des jüdischen Krieges" von Flavius Josephus. Die Legende wird gedruckt und als Interpretationshilfe für ratlose Betrachter der vielfigurigen Szenerie bereitgehalten. Zu oberst schweben die Propheten Jesaias, Jeremias, Ezechiel und Daniel. Sie messen sich mit den Prophetendarstellungen aus der Sixtinischen Kapelle. Sie verleihen der gesamten kompositorischen Anlage biblische Legitimation, sollen die Wahrheit der heiligen Schrift für Kaulbachs Werk beanspruchen. Darunter schweben Engel. Sie sind mit flammenden Schwertern bewehrt. Sie erheben ihre Waffen anmutig schwingend, um die Zerstörung des Gotteshauses durch römische Truppen als "göttliches Strafgericht" erscheinen zu lassen.

Der offizielle Katalog der Neuen Pinakothek leitet Kaulbachs Bildvorwurf aus dem biblischen Buch Daniel ab. Tatsächlich findet sich an der zitierten Stelle1 „Die Weissagung von den siebzig Jahrwochen“. Der Prophet berichtet von Offenbarungen, die ihn die Zukunft seine Volkes vom Babylonischen Exil bis zur Verfolgung in der Zeit des Syrerkönigs Antiochus IV. Epiphanes vorhersehen lassen : „Das Volk eines Fürsten, der kommen wird, bringt Verderben über die Stadt und das Heiligtum.“ Die Bibelstelle bezieht sich somit sicher nicht auf die Zerstörung Jerusalem durch römische Truppen im Jahre 70 n.Chr., sondern auf ein Unheil, das über die Stadt im sechsten syrischen Krieg im Jahre 167 v. Chr. hereinbrach, als Antiochos in Jerusalem den Jahwekult abschaffte und seinen Herrscherkult im keineswegs zerstörten Tempel einführte. Daniel weissagt sogar das Ende dieser Fremdherrschaft „bis das Verderben, das beschlossen ist, über den Verwüster kommt“. Im folgenden Jahre erfolgt eine Erhebung der Juden unter Führung des Judas Makkabaios, die nach zweijähriger Dauer zur Befreiung Jerusalems führt.

Die weiterhin im Museumskatalog zur biblischen Legitimation von Kaulbachs Gemälde angeführte Stelle aus dem Evangelium nach Lukas (21,24)2 ist zu verstehen als Aufruf zur „Heidenmission“.3 Diese Christianisierung  ist die Voraussetzung für die Errichtung des Reiches Gottes. Nach seinem Einzug in Jerusalem kündigt Jesus die zukünftige Zerstörung der Stadt und des Tempels an. Unklar bleibt, ob damit die tatsächlich erfolgte Eroberung Jerusalems unter Vespasian durch seinen Sohn und Nachfolger Titus gemeint ist. Christi „Rede über die Endzeit“ ist geprägt vom Bewußtsein des ihm selbst unmittelbar bevorstehenden Todes. Die anderen Evangelisten Markus und Matthäus überliefern seine Worte als Hinweis auf das Weltenende, das mit dem Untergang Jerusalems hereinbrechen soll. Auch bei Lukas folgt auf die Vision vom apokalyptischen „Gericht über Jerusalem“ die Verheißung messianischer Wiederkunft und der Erlösung. Lukas leitet aus dem Gotteswort „Jerusalem wird von den Heiden zertreten werden, bis die die Zeiten der Heiden sich erfüllen“ ab, daß die Bekehrung der Andersgläubigen eine notwendige Voraussetzung für „das Kommen des Menschensohnes“ ist.

Auf den Stufen des brennenden Tempels zeigt Kaulbach nach Angabe des Museumskataloges die "Anführer der Juden". Die unheilsverkündenden Engel schweben geradewegs auf sie zu. Die militärischen Verteidiger ihrer Heimatstadt werden benannt als Johannes von Gischala und Simon, "des Gioras Sohn". Ohnmächtig verfolgen sie von ihrem erhöhten Standpunkt das schreckliche Geschehen. Ihre Gesichtszüge, ihr Bart, ihre Helme sind gestaltet nach einem uralten Feindbild. Die Nase senkt sich rüsselartig oder greifvogelähnlich über die Oberlippe. Kinnbärte stechen dämonisch aus dem Gesicht. Die Helme sind mit Aufsätzen versehen, die an den gehörnten Hut denken lassen, der Juden bereits in der Bildwelt des Mittelalters denunziert. Als Quelle dient die "Geschichte des Jüdischen Krieges" des Historikers Flavius Josephus. Josephus, der Sohn des Matthias führt zur Regierungszeit des Kaisers Nero, also noch zwei Jahre vor dem Fall Jerusalems das Kommando im Bezirk Galiläa.4 Der Provinzbefehlshaber von römischen Gnaden sieht sich mit dem Widerstand des Joannes aus Gischala, des Levi Sohn, konfrontiert. 5 Dieser "hinterlistige Mensch aus Gischala" ist "verschlagen und tückisch" und schreckt nicht vor einem Mordkomplott gegen ihn zurück. Er versucht, eine Sezession vom Zaun zu brechen, die Josephus als Kommandeur militärisch niederschlagen muß. 

Flavius Josephus muß sich in dieser Zeit mit Simon, des Gioras Sohn auseinandersetzen. Er beschreibt den späteren Beschützer der Ringmauer um Jerusalem als einen in Judaea marodierenden Räuber, Banditen und Mörder.6 Der jüdische Geschichtsschreiber darf die Belagerung und Eroberung der Stadt von der Seite der römischen Angreifer aus beobachten. Er verfolgt das Geschehen aus der Sicht der römischen Sieger. Er stützt sich auf Berichte von Überläufern, die damit rechnen müssen, in die Sklaverei verkauft zu werden. Er beruft sich bei seinem Bericht auf die Zustimmung des triumphierenden Feldherrn Titus. Dabei scheut er sich nicht, ein später von Kaulbach genüsslich ausgeschlachtetes Greuel zu erwähnen : Maria, die Tochter Eleazars aus dem Dorfe Bethezob, die im Katalog erwähnte "Matrone aus Bethezob" soll im Wahn des Hungers ihren eigenen Säugling ermordet und gebraten haben.7 Hier liegt es für den königlich bayerischen Hofmaler nahe, verlogene Bildklischees über angebliche jüdische Ritualmorde zu gebrauchen, denen er auf seinen Romreisen auf dem Weg durch Rinn bei Innsbruck oder Trient begegnet sein könnte.

Im Vordergrund wird dieses Judenbild weiter ausgeführt. Geld und Geschmeide ergießt sich aus einer kostbaren Vase über den Boden zur Linken des mit finsteren Blick brütenden Bewaffneten. Sein bedecktes Haupt soll ihn genauso als gläubigen Juden kennzeichnen, wie der mosaisch fließende Bart. Die im Todeskampf niedergestreckte Gestalt rechts von ihm hinterläßt unter ihrer Brust eine Blutspur auf dem Boden. An der Spitze seines Schwertes klebt Blut. Auch das Messer neben der Knabenleiche links über ihm ist blutverschmiert. Das unmittelbar senkrecht darunter stehende Metallkessel läßt an frühere Ritualmordlügen gegen Juden denken. Ein ikonographischer Zusammenhang mit Darstellungen von Blutbeschuldigungen wie bei der angeblichen Ermordung des Simon von Trient ist möglich.

Das Geschehen steht im beziehungsreichen Zusammenhang mit einer Figurengruppe in der rechten unteren Bildhälfte. Mutter Maria samt Joseph, Jesusknaben und Johannes reiten ähnlich wie beim Einzug in Jerusalem auf zwei Eseln. Der Zug wird bekrönt von Engeln, die einen Meßkelch samt darüber schwebender Hostie tragen. Neben dem süßlich anekdotischen Esel, der gerade eine stachelige Distel frisst, knien drei Kinder. Sie heben die Hände wie in Anbetung, oder im Begriff, um ihr Leben zu bitten. Darüber entfaltet sich das Schauspiel rächender, Recht schaffender römischer Staatsmacht. Kaiser Titus  rückt im Triumphzug voran. Seine Legitimation wird unterstrichen durch das mitgeführte Liktorenbündel, das Zeichen legitimer staatlicher Gewaltausübung. In der Bildmitte steht das siegreiche Feldzeichen des Senats und Volkes von Rom. Darunter versucht ein herkulischer Legionär vergebens, dem mörderischen Treiben in Jerusalem Einhalt zu gebieten.

Im linken Vordergrund zeigt Kaulbach den von Furien getrieben  "Ewigen Juden". Er scheint vor der Knabenmordszene zu fliehen. Ahasver entstammt nicht der biblischen Überlieferung. Das Motiv des „Ewigen Juden“ geht zurück auf eine im Jahre 1602 an einem unbekannten Ort in Deutschland erschienene Broschüre mit dem Titel „Kurtze Beschreibung und Erzehlung/ von einem Juden/ mit Namen Ahasverus : welcher bey der Creutzigung Christi selbst Persönlich gewesen/ auch das Crucifige über Christum hab helffen schreyen/ unnd um Barrabam bitten/ hab auch nach der Creutzigung Christi nimmer gen Jerusalem können kommen/ auch sein Weib und Kinder nimmer gesehen : unnd seithero im Leben gebieben/ und vor etlich Jahren gen Hamburg kommen/ auch Anno 1599 im December zu Dantzig ankommen.“8 Der Katalog der Neuen Pinakothek kritisiert formal „die ganze Problematik dieser idealistischen Historienmalerei“9 Er relativiert jedoch nicht die großformatig in den Vordergrund gestellte barocke Moritat vom dämonengejagten jüdischen Wiedergänger. Die kompositorisch zentralen Racheengel mit ihren Flammenschwertern werden unkritisch für „Vollzieher des göttlichen Strafgerichtes“10 ausgegeben.

Der Bildvorwurf der „Zerstörung des Tempels in Jerusalem“ wird von Nicolas Poussin zweimal behandelt. Die erste Fassung aus der Zeit um 1625 bestärkt seinen Ruf als „peintre-philosophe“, der es versteht, antike Geschichte und Geschichtsschreibung mit seiner Malerei in Einklang zu bringen. Er arbeitet in Rom im Auftrage des Papstneffen Francesco Barberini. 11 Er wird von allen Kunstexperten der Ewigen Stadt geschätzt. Das Gemälde für den Staatssekretär und Kardinal bessert Poussins finanzielle Lage entscheidend und bildet die Voraussetzung für seinen folgenden glänzenden Aufstieg. Der von rechts in der Pose des Marc Aurel hoch zu Roß vorrückende Titus spielt auf die diplomatische Rolle Barberinis an. Er hat als Gesandter in Frankreich und Spanien versucht, einen Krieg zwischen den beiden katholischen Mächten zu verhindern. Das öffentlich anerkannte, „aufgeklärte“ und humanitäre Kaisertum des Marc Aurel ist ein Vorbild für ihn. Allerdings deutet Poussins Bild an, daß in kriegerischen Verwicklungen selbst der beste Kaiser nicht immer Herr der Lage sein kann.

Trotz der abwehrenden Handbewegung des Oberbefehlshabers lodern die Flammen aus dem Dachgebälk des Gotteshauses, wird liturgisches Gerät geplündert, werden wehrlos am Boden Liegende attackiert. Poussin hat vorbereitend ein Relief vom Titusbogen  skizziert. Dort wird herausgestellt, wie der geraubte Tempelschatz samt siebenarmigem Leuchter im Triumphzug des römischen Herrschers mitgeführt wird. Auf dem Gemälde ist der Moment des Raubes inszeniert. Dem Gesicht des  rechten  Legionärs ist das Schuldbewußtsein deutlich anzumerken. Der Frontfassade von Poussins Tempel gleicht der des römischen Pantheons. Der Respekt vor geweihten Orten wird unterstrichen. Der Malerphilosoph  folgt mit seinem Schlachtengemälde dem Bericht des Flavius Josephus. 12 Demzufolge ordnet Titus, leider erfolglos an, den brennenden Tempel zu löschen. Er will durch persönlichen Einsatz - jedoch vergebens - die Legionäre zur Rettung des gegnerischen Heiligtums bewegen. Er versucht, ebenfalls ohne Wirkung, „dem Ungestüm seiner wie rasend gewordenen Soldaten“ wehren. 13 Diese rauben, was ihnen in die Hände fällt und metzeln „die Juden, die sie antrafen zu Hunderten nieder.“14 Die Eindringlinge kennen keine Gnade gegen Kinder und Greise, Laien und Priester. Leider kann der Cäsar nicht verhindern, daß seine Leute, ohne Befehl von ihm oder seinen Offizieren, mehr als sechstausend Menschen im Tempelbezirk verbrennen. Eine Menge, überwiegend Frauen und Kinder flüchten in die noch unversehrte Halle des äußeren Tempelhofes. Titus kann nur noch zusehen, wie das Bauwerk von marodierenden Römern in Brand gesteckt wird.15

 

 

1Die Bibel, Altes und Neues Testament, Einheitsübersetzung, Stuttgart1980, Daniel 9, 26, S. 1010

2Die Bibel, a.a.O., S. 1182

3Die Bibel, a.a.O., S. 1147

4Flavius Josephus, Geschichte des Jüdischen Krieges, Übersetzt und mit einer Einleitung versehen von Dr. Heinrich Clementz, Brauweiler 1900, Reprint Wiesbaden o.J., S. 286

5Flavius Josephus, a.a.o., S. 289 ff.

6Flavius Josephus, a.a.O., S. 300

7Flavius Josephus, a.a.O., S. 300

8Stefan Rohrbacher, Michael Schmidt, Judenbilder, Kulturgeschichte antijüdischer Mythen und antisemitischer Vorurteile, Reinbek 1991, S. 246 ff

9Bayerische Staatsgemäldesammlungen, Neue Pinakothek, Erläuterungen zu den ausgestellten Werken, München 1981, S. 149

10Bayerische Staatsgemäldesammlungen, a.a.O., S 148

11 Nicolas Poussin, Die Zerstörung des Tempels in Jerusalem, Schlachtenbilder aus der Jüdischen Geschichte, Katalog Kunsthistorisches Museum, Wien 2001, S. 12

12 Poussin, a.a.O. S. 17

13 Flavius Josephus, a.a.O., S. 589

14 Flavius Josephus, a.a.O., S. 591

15 Flavius Josephus, a.a.O., S. 593