Fassbinder im "Gläsernen Eck"
Im Jahre 1963 übernehmen Adi und Emmi Bauer die Wirtschaft an der Ecke von Hildegard- und Hochbrückenstraße, in der noch ein fichtener Boden, stellenweise altes Parkett ist. In der Ecke steht ein riesiger Ölofen. In der Mitte des engen Raumes befindet sich ein großer, runder, gut besuchter Stammtisch. Hier treffen sich regelmäßig der Bierfahrer, der Postler, ein Lehrer, Handwerker aus dem umgebenden, bunten Wohnviertel.. Die nahe Maximilianstraße dient noch nicht ausschließlich den Luxuswünschen der "besseren Leute". Neben Herrenschneidern und Kunsthandlungen gibt es eine heute längst verschwundene Metzgerei, einen Milchladen, eine Bäckerei. Zum Mittagessen ist das Lokal in der Seitenstraße parallel zur Nobelmeile lebhaft besucht. Statt des dreieckig betonierten Parkhauses, gibt es fünfgeschossige Wohnhäuser mit kleinen Läden. Die verwinkelten Grundrisse gehen auf den Lauf des längst trockengelegten Kaltenbaches zurück. Otto, der Gemüsehändler von gegenüber kommt meist als Erster, findet sich oft bereits um acht Uhr morgens im "Gläsernen Eck" ein. Erst um ein Uhr nachts ist Sperrstunde.
1965 wird von der Brauerei zehn Wochen lang das Lokal umgebaut. Der Ofen macht einer Zentralheizung Platz. Das besonderen Feierlichkeiten oder Vereinstreffen vorbehaltene Nebenzimmer wird dem Gastraum angegliedert, das nun weitläufig, großzügig modern wirken soll. Praktische Einscheibenkipphebelfenster werden eingebaut. Eine abgehängte helle Akustikdecke vermindert die Raumhöhe. Die in Bayern übliche, an den Wänden umlaufende Sitzbank verschwindet samt den dunkel lackierten, übermannshohen Vertäfelungen. Ein massivhölzerner, heute nur noch selten benutzter Raumteiler aus Falttüren wird eingezogen. Ein finsterer Gang zu den Toiletten wird verkürzt, durchbrochen, mit einer elektrischen Flaschenbierkühlung bestückt. Der Schanktisch wandert aus dem vorderen Drittel in den rückwärtigen Bereich. Der Schenkkellner muß nicht mehr stehend die rauchdunstige Runde der Bierseligen überblicken. Die Renovierung wird gekrönt durch Leuchtkörper aus Kupfer und gehämmertem Bandeisen, die Gemütlichkeit andeuten sollen. Den Höhepunkt geschmackvoll ausgedrückter Münchner Bodenständigkeit bildet eine metergroße Fotoreproduktion. Eine Ansicht der Stadt aus der uralten Chronik des Hartmann Schedel an der Südwand verkündet flächendeckend die Weltgeltung der Isarmetropole.
Der Kreis um Rainer Werner Fassbinder fügt sich
seit 1967 anstandslos in diese gutbürgerliche Umgebung. Die gesetzteren
Stammgäste zieht es ohnehin abends nachhause, sodaß sie den "wilden" Leuten vom
"antitheater" kaum begegnen. Es gibt "keine Komunikation" zwischen dem soliden
Tagespublikum und den ungewöhnlichen jungen Nachtschwärmern. Abends kommen "ganz
andere Leute". Die "vom Land", aus der Deggendorfer Gegend stammende junge
Wirtin, staunt über "mit Leder bekleidete" Burschen. Es fallen Worte, die sie
"eigentlich gar nicht gewöhnt" ist. Sie fühlt sich ein wenig befangen. Ihr fällt
es schwer, die in der Gruppe offen gezeigte Homosexualität zu verstehen. Aber
sie ist nicht neugierig, "hört normalerweise weg".
Die Herren von den benachbarten Kammerspielen verkehren ursprünglich im Eiscafé Roma an der vornehmen Maximilianstraße. Nur die Bühnenhandwerker besuchen die gute, preiswerte, nahrhafte Wirtschaft gegenüber. Die Stars der nahegelegenen Oper, die Helden des Residenztheaters finden noch nicht den Weg in das "Gläserne Eck". Eher fassen Schauspieler der städtischen Bühne dort Fuß. Die "Fassbinder-Leute" setzen sich zuerst über soziale Schranken hinweg. Neue Formen des Zusammenlebens werden erprobt, festsitzende Klischees angesprochen, lang eingespielte Rollen überwunden. Eine Gegenkultur soll gelebt werden. "Da hat sich das schon so eingebürgert." Fassbinders Führung ist unumstritten. Er teilt "kommunenhaft" eine geräumige Altbauwohnung in der isarwärts gelegenen Stollbergstraße. Er zahlt Speisen und Getränke für die ganze ihn begleitende Gesellschaft. Er wird mit dem Nachnamen angesprochen, während sich seine Freunde beim Vornamen nennen. Er ist der Boss.
Fassbinder ist der Wirtin gegenüber "nicht wild". Er tritt "ganz nett" und zurückhaltend auf. Er fragt höflich, ob es möglich wäre, Episoden seines neuen Filmes im "Gläsernen Eck" zu inszenieren. Zum Drehen bleibt nur der Sonntag, als einziger Ruhetag der ganzen Woche. Die Arbeit soll in "ein paar Stunden" bewältigt sein. Um zehn Uhr morgens wird die Beleuchtung aufgebaut. Alle packen an. Emmi hat zum Wochenende noch den Kunststoffboden gereinigt und poliert. Sie ist etwas bekümmert, in welchem Zustand sie das Lokal abends vorfinden wird. Abgeschrammte Ausrüstungsteile werden hereingetragen. Ein staunenswertes "Riesentrumm" von Kamera wird hereingerollt. Mächtige Stufenlinsenscheinwerfer mit ihren schwarzen, schwenkbaren Toren tauchen Emmis Wirtsstube in gleißendes Rampenlicht. Sie sorgt sich ein wenig um ihre Stromrechnung. Die Sicherungen werden stark beansprucht, überstehen die Höchstleistung ohne Ausfälle. Der Originalton wird synchron aufgenommen, ein Mikro mit der Angel "hingehalten". Die Gruppe funktioniert "unauffällig", wie "nebenbei". Gelegentlich, in den Drehpausen wird Brotzeit gemacht, Kaffee getrunken. Emmi ist stets beschäftigt, verfolgt manchmal aus dem Hintergrund still die Auftritte vor der Kamera. Ihr fällt nicht auf, daß jemand geschminkt wird. "Die waren alle so hübsch. Wozu hätten sie eine Maske gebraucht ?" Die Filmaufnahmen dauern insgesamt zwölf Stunden.
Später erfährt Emmi, daß "Katzelmacher" in Berlin mit dem "Goldenen Filmband" ausgezeichnet wurde. Die Familie und die Stammgäste erhalten Freikarten für die Aufführung in einem Münchner Kino. Aber der Gaststättenbetrieb darf nicht unterbrochen werden. Nur Herr Bauer kann sich Zeit nehmen, um Fassbinders Werk kennenzulernen. Als Wirt mit Leib und Seele bemerkt er durch die Tonaufnahmen im Film, daß die Angeln seiner Eingangstüre quietschen. Er kauft sich nach der Vorführung in der Tankstelle gegenüber Sprühöl, um rasch die Störung zu beheben. Der Kontakt zu Fassbinders Gruppe reisst in den folgenden Jahren ab. Fassbinder verkehrt jetzt meist in der "Deutschen Eiche" im Gärtnerplatzviertel. Eine Villa in Feldkirchen wird anstelle der Vorstadtwohnung bezogen. Manche Mitglieder zieht es trotzdem noch zwanzig Jahre später wieder in das "Gläserne Eck".
Rudolf Waldemar Brem wohnt später in der Herzog-Rudolf-Straße, kommt öfters. Irm Hermann ist noch in Erinnerung. "Katzelmacher" wird gedreht an neun Tagen im August 1969. Der Film ist sofort erfolgreich, erhält mehrere Festival-Auszeichnungen, das Prädikat "besonders wertvoll" sowie fünf Bundesfilmpreise, verbunden mit einer Prämie von 400.000 DM für die Finanzierung des nächsten Spielfilms. Premiere ist am 8.10.1969 bei den Mannheimer Filmwochen. Katzelmacher begründet Fassbinders Durchbruch als Filmemacher in der deutschen Kulturszene. Der im Vorspann als Berater genannte Joachim von Mengershausen. ist heute WDR-Redakteur. Der Kameramann Dietrich Lohmann hat nach dem Volontariat bei der Firma Olympia-Film in München eine Ausbildung zum staatlich geprüften Filmtechniker an der Fachschule für Foto, Optik und Film in Berlin abgeschlossen. In den Vorjahren arbeitet er an Filmen von Werner Herzog und Alexander Kluge mit. Durch Kluge bekommt er Kontakt zum Institut für Filmgestaltung in Ulm, wo er an Hochschulproduktionen mitwirkt. Er führt bei "Cardillac" von Edgar Reitz die Kamera, ehe er den ersten langen Spielfilm Rainer Werner Fassbinders aufnimmt. Er spielt eine hervorragende Rolle beim Neuen Deutschen Film, stirbt 1997 in Los Angeles. Regieassistent ist Michael Fengler. Er hat sein Studium der Kunstgeschichte, Romanistik und Germanistik in Bonn und München absolviert, war Leiter des studentischen Filmclubs in München. 1971 ist er Mitbegründer des Filmverlags der Autoren.
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